Zuckerwatte aus Draht
(Stuttgarter Zeitung vom 20.09.2002)

Das Konzert der Popgruppe A-ha in der Schleyerhalle

Blöd ist"s manchmal. Zum Beispiel, wenn man freudvoll Süßes kaut und dabei außerplanmäßig auf Hartes beißt. Ein Kern in der Frucht, eine Schrotkugel im Schokoriegel genügen schon, damit der Zahn zur Kraterlandschaft gerät. Der ersehnte Biss mutiert dann im Nachhinein zur aberwitzigen Expedition, und eine ganze Menge Morgenstunden gehören fortan dem Zahnarzt. Nicht etwa der Liebe, dem Buch oder der Zen-Meditation.

Die besten Lieder der norwegischen Popgruppe A-ha waren schon immer mit solch bittersüßen, wenn auch nicht mit derart banalen Inhalten gefüllt. "Time & Again" heißt eines auf ihrem frisch erschienenen Album "Lifelines". Ganz sanft, ganz flauschig und überaus einnehmend zirpt Morten Harket da zur säuselnden Gitarre seine Zeilen von der Sonne, die ihn ins Leben gebracht hat. Die wichtigste Zeile jedoch lautet dann so: "Love is a Thing that can't be".

Dafür, dass die Liebe eine Sache sei, die gar nicht existieren könne, schmust der Sänger auch bei 8000 Menschen in der Schleyerhalle höchst intensiv mit der Hörerschaft. "Time & Again" ist der sechste Song von knapp zwanzig, und Harkets Stimme, Harkets Körper, der ganze Morten Harket singt sich sehnend den Hoffenden ins Herz. Ein Lied ist das wie Zuckerwatte aus Stacheldraht. Erst gefällt"s. Und dann tut es weh.

Mit derart zweischneidigen Klangungetümen eröffnet die Gruppe auch ihr Konzert in der Schleyerhalle. Da scheppert und kracht es, da gurgelt und peitscht es tief aus dem Inneren der A-ha-eigenen Elektronik. Einen Gipfelabstieg im Eisregen malen die Popstars mit Klängen in die Luft, noch bevor Morten Harket "Forever not yours" anstimmt, auch so ein bitteres Lied über das Nicht-Zusammensein-Können vom neuen Album. Und wie schön das doch beginnt: "Hold me tight", singt der Verführer am Anfang. Keine Frage: Dieser Gipfel, dieser vom Keyboard eisigst umpeitschte und von Bass- und Schlagzeugbrutalität fast zur Detonation gebrachte Gipfel muss sehr lieblich im Morgenlicht gestrahlt haben. Vor sehr langer Zeit.

Vor noch längerer Zeit, in den achtziger Jahren, war A-ha eine Band, die von vielen Teenagern innig verehrt wurde. Deshalb nannte man A-ha eine Teenie-Band. Anfang der neunziger Jahre verebbte die Liebe, woraufhin Morten Harket (Gesang) und seine beiden Songschreiber Magne Furuholmen und Paul Waaktaar-Savoy (Keyboards und Gitarre) das Projekt A-ha sieben Jahre lang ruhen ließen. Im Jahr 2000 dann ein Comeback voll von Euphorie. "Minor Earth, Major Sky" hieß die CD der Rückkehrer, und den damaligen Titelsong hat man nun absichtsvoll zum zweiten Lied des Abends auf einer normalen Alltagstournee erkoren: Kosmisch anmutende Philosophenversprengsel betten sich auf das erquicklichste in anrührende musikalische Harmonie. Und just in diesem Moment regnet ein Teddybär auf die Bühne.

Jemand mag ihn geworfen haben, der 1983, als A-ha mit "Take on me" ihren ersten Hit verbuchten, vielleicht vierzehn war. Fast zwei Jahrzehnte später kann so ein Mensch, vor allem, wenn er Arm in Arm mit der populären Musik gelebt hat, schon erschreckend alt aussehen. Morten Harket aber, der Protagonist, der den Teddybären mittlerweile liegen lassen kann, blickt von der letzten Plattenhülle genauso unverbraucht knabenhaft herunter wie vom allerersten Bravo-Poster. Auch deshalb sind A-ha Konzerte unwirkliche Konzerte.

Bis der jugendlich strahlende und immer noch verblüffend jugendlich singende 43-Jährige in Stuttgart "Take on me" geben darf, ist beinahe ein ganzes Konzert vergangen, das an der Illusion vom ewigen Aufbruch doch ganz erheblich gerüttelt hat. Morten scheint müde. Die weihevollen Gesten, mit denen der Sänger den Publikumschor bei "Hunting high and low"
dirigiert, wirken bloß noch einstudiert, die hundertfach gemeisterten Stimmserpentinen klingen zwar immer noch sehr schön, vor allem aber klingen sie routiniert. Die Euphorie des Comebacks, mit dem der Sänger und seine Band vor noch nicht einmal zwei Jahren die Schleyerhalle beglückten, scheint verflogen.

Manchmal, wenn die Herren Furuholmen und Waaktaar-Savoy an Keyboard und Gitarre solistisch Härte proben und Morten Harket zwischendrin herumsteht, dann wirkt er fast, als flüchte er sich - halb sich dreinfindend und halb schauspielernd - in die Rolle, die A-ha so oft beschrieben haben: die Traumgestalt mit dem fabelhaften Lächeln, die nicht lieben kann. - Mortens Müdigkeit ist umso augenfälliger, je weniger die Soundmixer den Filigranklang seiner Band im Griff haben. Mal poltert der Bass, dann wieder matscht die sehr ordentliche Hintergrundband, die dem bestrahlten Trio die Klangkulisse liefert.

A-ha gibt dennoch kein schlechtes Konzert. Viel Neues, Aufregendes ist zu hören vom aktuellen Album, manches vom Vorgänger, all die alten Hits. Und das Zusammenspiel von wagemutig ausformulierten Melodien und der mortenschen Stimme berührt - immer noch. Doch ausgerechnet der im neuen Song "Lifelines" formulierte Wunsch, einmal das Echte zu erfahren, erfüllt sich nicht. Das war - wenn es überhaupt je war.

Als ganz am Schluss, zu einem leicht gehetzten "The Sun always shines on TV", die Monitore auf der Bühne weiß umherhuschende Streifen auf schwarzem Grund zeigen, da wirkt das wie ein selbstironischer Fingerzeig. Fernseher kaputt. Hat da je was geschienen? Und was, wenn ja? "Berühr mich", fleht Morten, nun ganz der einsame Zuckerwatte-Verkäufer. Und zeigt, stärker noch als er will vielleicht, dass nichts so ist, wie es scheint.

Dank an Liane

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